Die Besseren

Eine Geschichte über Vorurteile, Hilfsbereitschaft und neu gewonnenem Respekt von Christoph Schaaf

Es ist Montagmorgen. Tim fährt mit seinem neuen Mountainbike zur Schule. Er trägt nagelneue Sachen und fühlt sich blendend. Auf dem Weg begegnet er seinem besten Freund  Michael. Er grüßt ihn freundlich. Michel grüßt zurück und grinst. Sie fühlen sich gut. Wie jeden Montag.

„Hast du die Matheaufgaben gestern noch fertig gemacht“, fragt Michael.

„Na klar. War doch ganz einfach“, antwortet Tim.

„Und deutsch auch?“

„Na logo.“

„Wie sehen die Noten bei dir aus?“, fragt Micheal.

„Bis jetzt alles super. Nur Einsen und Zweien. Das Endzeugnis wird toll. Papa lädt mich bestimmt wieder zum Eisessen ein.“

Während die beiden über ihren Schulerfolg reden, passieren sie das Eingangstor der Schule. Auf dem Schulhof warten schon ihre Freunde. Alle haben schicke Sachen an und sind bester Laune. Heute wird wieder ein Guter Tag.

Die erste Stunde ist Mathematikunterricht. Tim und Michael arbeiten die ganze Zeit mit und wissen fast immer die Antwort.

Bei Paul läuft es leider nicht so gut. Als die Mathelehrerin Frau Müller Paul fragt, wieviel 3 mal 3 ist, weiß er die Antwort nicht. Paul wird nervös und fängt an zu raten: „6, 7 nein es ist 11.“

„9“, tadelt ihn Frau Müller. Michael und Tim fangen an zu lachen. Typisch Paul, der kriegt doch nie etwas auf die Reihe. So wie sein Vater, der ist doch auch arbeitslos. Naja da kann aus dem Paul doch auch nichts mehr werden. Das sagt Vati jedenfalls immer beim Abendbrot.

Paul wird rot und schämt sich. „Warum muss ich nur immer so nervös werden, wenn Frau Müller mich anschaut?“, fragt er sich. Ich weiß doch die Antwort. Gestern habe ich doch alle 3-er Reihen gewusst. 1 Mal 3, 2 Mal 3, 3 Mal 3, bis 9 mal 3. Warum krieg ich das nicht hin? Er findet keine Antwort auf diese Frage und beschließt, den Blick zu senken und nichts mehr zu sagen.

Im Sportunterricht spielt die Klasse 2C Fußball. Tim und Michael spielen im Sturm. Jeder macht drei Tore. Paul steht im Tor. 6 Tore hat er kassiert, was für eine Pleite. „Warum geht bei mir alles schief“, fragt er sich. „Was stimmt nicht mit mir?“

Als der Sportunterricht vorbei ist, grinst ihn Tim höhnisch an. „Tia, das war wohl nichts? Aber wen wundert das? Wir sind eben die Besseren und du gehörst zu denen, aus denen nichts wird. Guck dir doch deinen Vater an. Du wirst genauso wie er.“ Selbstgefällig zieht Tim von dannen.

Traurig und mir rotem Kopf verlässt auch Paul das Spielfeld. Die fünfte Stunde ist vorbei. Er kann endlich nach Hause fahren.

Er macht sich mit seinem Damenrad auf den Heimweg. Auch wenn sein Fahrrad alt ist, genießt er den Weg. Das Fahrrad fährt sich super. Es ist zwar alt, aber es tritt sich leicht und er kommt schnell vorwärts. Auch die Bremsen funktionieren einwandfrei. Als er den Wind im Gesicht fühlt, blüht sein Herz etwas auf. Er ist etwas stolz auf sich. Das Fahrrad hat er mit Papi repariert. Papi hatte es ihm mitgebracht. Am Anfang fuhr es sich ganz schlecht. Aber Papi hat ihm gezeigt, wie man es so repariert, dass es sich gut fährt. Paul hat dabei viel gelernt und es hat ihm Spaß gemacht.

„Vielleicht gibt es ja doch etwas, was ich gut kann“, denkt er gerade, als sein Blick auf einen Jungen am Straßenrand fällt. Da liegt jemand am Rand. Vielleicht ist etwas passiert. Er fährt schnell drauf zu und legt eine Vollbremsung hin. Er springt von seinem Rad und hilft dem Jungen hoch. Er ist ganz verdutzt. Es ist Tim. Mit Tränen in den Augen lässt Tim sich hochziehen.

„Was ist denn passiert?“, fragt Paul.

„Ach nur die blöde Kette, die fliegt immer raus und verhakt sich“, antwortet Tim.

„Ist alles Ok?“

„Denke schon, nur das Knie tut etwas weh.“

„Ach das wird wieder“, sagt Paul mitfühlend. Er ist auch schon öfter hingefallen. Und am Knie tut immer am meisten weh.

„Soll ich dir helfen, die Kette wieder reinzumachen?“

„Kannst du vergessen, das geht nicht. Ich muss das Fahrrad nach Hause schieben. Papi bringt es dann in die Werkstatt.“

„Ach das kriegen wir doch auch so hin“, sagt Paul selbstbewusst.

Paul holt sein kleines Werkzeug-Taschenmesser aus dem Ranzen, das ihm sein Vater geschenkt hat, als er acht wurde.

„Guck mal, die Kette hat sich doch nur zwischen Rahmen und Zahnrad verklemmt. Mit dem Imbusschlüssel-Werkzeug kriege ich es doch leicht raus. Du musst nur den Imbus-Schlüssel am Rahmen etwas einklemmen, dann kriegst du einen Hebel. Das sagt Papi immer. … und zack schon ist die Kette draußen.“, erklärt Paul.

Paul schiebt die Kette wieder auf die Zahnräder.

„Übrigens ist deine Kette zu lang, vielleicht ist sie ausgeleiert. Deswegen fliegt sie immer raus.“

„Was der alles weiß“, denkt sich Tim.

„Wenn du magst, kommst du kurz mit zu mir, dann können Papi und ich dir helfen, sie etwas kürzer zu machen. Dann kannst du dein Fahrrad wieder genießen. Es ist nur zwei Minuten von hier.“

„Naja ich weiß nicht“, meint Tim. Irgendwie schämt er sich, weil er vorhin so gemein war zu Paul.

„Ach hab dich nicht so. Es wird dich schon niemand auffressen“, sagt Tim grinsend.

Ohne so richtig zur wissen, wie ihm geschieht, folgt Tim Paul nach Hause.

Dort hilft ihm Pauls Vater. Er macht die Kette mit einem Kettenietgerät auf, macht sie etwas kürzer und nach zwei Minuten sitzt die Kette wieder stramm am Fahrrad und das Fahrrad fährt sich wunderbar.

Tim ist ganz verwundert. Er wusste gar nicht, dass Paul und sein Vater Fahrräder reparieren können. Sein Vater kann das nicht.

Plötzlich kommt ihn eine Idee: „Du Paul, wollen wir zusammen Zahlen üben?“

Paul freut sich. Das fehlte ihm noch. Er übte immer alleine, aber das ist nicht so, wie wenn man abgefragt wird. Die beiden übten den ganzen Nachmittag Zahlen und als Paul am nächsten Morgen in der Mathestunde abgefragt wurde, wusste er jede Antwort.

Am Ende der Stunde blickte er nicht mehr nach unten. Er war ein bisschen Stolz.

Auch Tim fühlt sich verändert. Er hat nicht mehr das Gefühl, dass er besser war, als Paul. Er hatte eher das Gefühl, dass Paul in vielen Dingen besser ist, als er selbst. Er hatte es vorher nur nicht gesehen. Es war ein komisches Gefühl. Er bekam das Gefühl, dass etwas nicht stimmte mit ihm. Warum hatte er nur so sehr auf Paul herabgesehen? Dabei gab es so viel, was er gut konnte. Auch beim Fußball hatte er viel drauf. Nur der Torwart lag ihm nicht. Und er hatte ihm einfach geholfen mit dem Fahrrad, ohne sauer zu sein wegen den gemeinen Worten, die er Paul zuvor an den Kopf geworfen hatte. Tim schämte sich auf einmal und beschloss besser zu werden.

„Vielleicht wäre eine Freundschaft mit Paul ein guter Anfang“, dachte er. Paul beim Lernen zu helfen, hatte ihm Spaß gemacht. Auch das Fahrrad reparieren hatte ihm gefallen.

„Vielleicht könnten wir ja wirklich Freunde werden und uns gegenseitig helfen“, denkt sich auch Paul.

Und was am Anfang nur ein Gedanke war, wurde Wirklichkeit. Die beiden wurden gute Freunde und halfen sich gegenseitig.

Als das Schuljahr vorbei war, gab es eine Überraschung: Pauls Papa lud Paul zum Eisessen ein. Paul hatte viele Einsen und Zweien und nur ein paar dreien. Die Vieren waren verschwunden. Und da sein Vater inzwischen einen kleinen Fahrradladen eröffnet hatte, der auch sehr gut lief, hatte er auch das nötige Kleingeld für das Eis.

Als Paul und Tim am Schluss des Schuljahres so nachdachten, stellten sie fest, das etwas anders war als zu vor.

Ihr Leben fühlte sich irgendwie besser an.